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„Leben wir nicht alle in Nationen? Eine wirkliche Alternative ist für mich nicht in Sicht“, sagte Aleida Assmann eingangs und wies den Verdacht von sich, dass jede Beschäftigung mit der Nation Nationalismus produziere. Sie nahm sich selbst nicht aus, als sie kritisierte: „In unserem liberalen Denken vergaßen wir die Nation.“ Für die emeritierte Professorin der Universität Konstanz eine problematische Entwicklung, denn: Das verwaiste Konzept eignen sich rechte Strömungen an. >>>weiterlesen
In ihrem Plädoyer für eine Wiedererfindung der Nation im Rahmen des europäischen Projektes bezog sich Aleida Assmann auf ihr Lebensthema des Erinnerns und Vergessens. „Das Fallenlassen der Nation hat mit historischen Erfahrungen zu tun“, führte sie aus. Aufgrund der verheerenden Erinnerung an den Nationalsozialismus sei die europäische Integration für Deutschland eine willkommene Möglichkeit, die Frage der Nation zurückzustellen – „eine Sonderrolle“, so Aleida Assmann. In keinem anderen Land stelle man die europäische über die nationale Identität.
Bezugnehmend auf Theorien von Francis Fukuyama, Maurice Halbwachs und George Mosse skizzierte Aleida Assmann den Wandel des kollektiven Gedächtnisses seit den Weltkriegen. So habe ein Generationenwechsel im Zusammenspiel mit neuen historischen Erkenntnissen in den 1980er-Jahren die Ausschließlichkeit nationaler Erzählungen ins Wanken gebracht, etwa in Frankreich, das sich an das Vichy-Regime erinnerte oder in Österreich, wo die Vergangenheit des Bundespräsidenten Kurt Waldheim als Wehrmachts-Offizier ins kollektive Bewusstsein rückte. Wo die Nation zuvor keine Ambivalenzen aushalten konnte, rückte plötzlich das Leid der Nachbarn ins eigene Gedächtnis.
„Doch seitdem hat sich das Rad der Geschichte zurückgedreht, die Erinnerung wird wieder monologisch und Patriotismus zur nationalen Verpflichtung“, warnte Assmann angesichts von erinnerungspolitischen Streitigkeiten um das Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdańsk. Dabei ist sie überzeugt: „Aufgeklärte Bürger schwächen die Nation nicht, sie stärken sie.“
In der anschließenden, lebhaften Diskussion plädierte sie dafür, Anknüpfungspunkte für ein positives Nationenverständnis zu finden. Die Nation sei niemals an sich zivil oder brutal, könne sich aber auf beide der entgegengesetzten Pfade begeben. Um eine Brutalisierung zu vermeiden, forderte sie mehr Aufmerksamkeit für die Wiedererfindung der Nation: „Wir sollten die Nation nicht den Nationalisten überlassen, sondern positive Werte mit ihr verknüpfen und uns im Zeichen der politischen Gefahr aktiv für sie einsetzen.“ (FA)
IFES-Keynote-Lecture mit Aleida Assman, 28.01.2020
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