„Menschen sterben beim Überqueren der Grenze“ – Michel Agier eröffnet die Ringvorlesung „Life and Death at the European Borders“
Die Bilder von den Grenzen Europas sind bekannt: mit Menschen überfüllte Boote auf dem Mittelmeer, Tote, die aus Schiffswracks gezogen werden, Flüchtlingscamps, in denen es an hygienischer Versorgung und humanitären Hilfen fehlt. Prof. Dr. Michel Agiers Eröffnungsvortrag für die Ringvorlesung „Life and Death at the European Borders“ fesselte am 3. Mai 2021 rund 100 Zuhörerinnen und Zuhörer vor ihren Bildschirmen. Deutlich wurde: Grenzen sind mehr als reine Linien der Abgrenzung.
„Menschen sterben beim Überqueren der Grenzen. Das muss anerkannt werden“, eine Feststellung, die Michel Agier während seines Eröffnungsvortrages „Living and dying at the European Border” immer wieder erwähnte. Grenzen, so Agier, seien in den vergangenen Jahren zu kosmopolitischen Räumen gewachsen – komplexe Gebilde, für die eine einheitliche Migrationspolitik fehle. Weiterlesen >>>
Michel Agier bei seinem Eröffnungsvortrag zur Online-Ringvorlesung „Life and Death at the European Borders". Foto: IFES
Um diese „Borderlandscapes“ beziehungsweise „Borderlands“ begreifbar zu machen, ging Michel Agier in seiner Begriffsfassung auf mehrere Ebenen ein. So zeigte er den Dualismus von „Europa versus die Anderen“ auf. Diese Zweiseitigkeit müsse im Kontext von Kolonialisierung und ökonomischen Abhängigkeiten verstanden werden. Einen freien Blick auf Geflüchtete, etwa aus Afrika oder dem Nahen Osten, wo Agier mehr als sieben Jahre lang forschte, gebe es kaum. Vielmehr würden Flüchtlinge als „Unerwünschte“ gelten, womit ihnen oft nur ein Mindestmaß an Menschlichkeit zugeschrieben werde. Im Grenzland verschmelzen „die Anderen“ zu einer vereinheitlichten Masse. Das zeige sich etwa in den Sprachgegebenheiten in Flüchtlingscamps, so Agier. Zahlreiche Sprachen vermischten sich. Es würden zwar Übersetzerinnen und Übersetzer eingesetzt, Informationen gingen allerdings oft verloren. Die Aufnahmeverfahren endeten oft in Ja-Nein-Fragen, die der Komplexität des Prozesses und der Biografien nicht gerecht würden.
Michel Agier lehrt als Ethnologe und Anthropologe an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris und leitet das Institut de Recherche pour le Développement (IRD) in Marseille. Einer seiner Schwerpunkte ist die Forschung zu Geflüchteten und Migration.
Diese Ringvorlesung „Life and Death at the European Borders“ nimmt im Sommersemester verschiedene Aspekte grenzbedingter Sterblichkeit unter die Lupe. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sprechen unter anderem über die Statistik zu Todesfällen, die beteiligten Akteure, den politisch-institutionellen Charakter der Todesfälle sowie ihr Verhältnis zur Grenzmilitarisierung. Zudem schenken sie den Lebensbedingungen illegaler Reisender und den Erfahrungen des Grenzübertritts und der Beschränkung auf Hilfs- oder Hafträume Aufmerksamkeit. Ein besonderes Augenmerk gilt dem Wert, der dem Leben von Geflüchteten zugeschrieben wird und der Frage, wie Leben und Sterben ständig definiert, beeinflusst, geformt und herausgefordert werden. Die Veranstaltung ist eine Kooperation des Viadrina Instituts für Europa-Studien (IFES), dem Viadrina-Center B/ORDERS IN MOTION sowie dem Laboratoire D’ethnologie et de sociologie comparative (LESC)/Nanterre in Paris. (KH)
Die Vorlesungen finden bis zum 5. Juli immer montags von 16.00 Uhr bis 17.30 Uhr über Zoom statt; Anmeldung unter ifes@europa-uni.de. Zum Programm. Der Vortrag ist über das Viadrina-Multimediaportal abrufbar.