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Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges – Viadrina-Historikerin Prof. Dr. Claudia Weber zum Einmarsch Deutschlands in die Sowjetunion vor 80 Jahren

Am 22. Juni 2021 jährt sich der Einmarsch Hitler-Deutschlands in die Sowjetunion zum 80. Mal. Wie dieser Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg aus geschichtswissenschaftlicher Sicht zu bewerten ist und ob es neue Erkenntnisse zu den Geschehnissen gibt, erläutert Viadrina-Historikerin Prof. Dr. Claudia Weber im Interview.

Frau Weber, was ist noch heute interessant an diesem historischen Datum 22. Juni 1941, als deutsche Truppen in den frühen Morgenstunden die Sowjetunion angriffen?
Für mich ist es der Fakt, dass damit zwei Staaten im Krieg sind, die ja quasi am Tag zuvor noch Verbündete waren. Auch wenn der Hitler-Stalin-Pakt im Frühjahr 1941 kaum noch das Papier wert war, auf dem er stand, war er doch noch in Kraft. In der Nacht zum 22. Juni wendet sich der Krieg auf ganz entscheidende Art und Weise: militärisch, politisch und natürlich auch im Hinblick auf die Radikalisierung des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges.  

Wie kann es sein, dass Hitlers Offensive die Sowjetunion so überraschend traf?
In Deutschland gibt es diese landläufige Meinung, dass Stalin von der Operation Barbarossa überrascht wurde und er die Geheimdienstberichte ignoriert hatte. Ich habe da eine andere Position. Stalin wusste nur zu gut, dass Hitler die Sowjetunion überfallen würde. Aber er hatte angesichts der Schwäche der Roten Armee gar keine andere Chance, als abzuwarten. Es ist eine alte militärische Strategie, den Gegner in das eigene Land marschieren zu lassen und aus der Rolle des Verteidigers heraus zu agieren. Es war in gewisser Weise ein überlegter militärstrategischer Schachzug von Stalin, Hitler einmarschieren zu lassen, die deutschen Truppen sich müde kämpfen zu lassen und eigene Ressourcen zu schonen. Darüber hinaus überließ Stalin Hitler so quasi die „Auseinandersetzung“ mit dem ukrainischen und weißrussischen Widerstand. Er ließ ihn auflaufen – ein hochriskantes, letztendlich aber erfolgreiches Vorgehen.

Wie erklären Sie sich, dass die Deutung von Stalin als überrumpeltem Herrscher dennoch so populär ist?
Es ist häufig unsere westliche Perspektive, die Stalin Irrationalität und manchmal sogar Paranoia unterstellt, dabei handelte er durchaus mit realpolitischer Logik und grausam rational. Wenn uns diese Logik eben grausam erscheint, und das war sie, neigen wir dazu, sie zu pathologisieren, also ins Krankhafte abzuschieben. Ein wenig schwingt da auch die Unterstellung mit, dass Rationalität eher nach Westeuropa, Irrationalität eher in den Osten gehört. Aber auch für die sowjetische Geschichtsschreibung war es wichtig, das Bild des überraschenden Überfalls aufrecht zu erhalten.

Immer wieder taucht in Deutschland die Forderung auf, die Operation Barbarossa stärker erinnerungspolitisch zu verankern – auch angesichts von Millionen ziviler Opfer in der Sowjetunion. Matthias Platzeck forderte vor fünf Jahren einen eigenen Gedenktag. Halten Sie das Datum auch für zu wenig präsent?
Ich glaube, um dies einschätzen zu können, bin ich zu sehr in meiner historischen Blase; für mich war das immer ein sehr wichtiges Datum. Aber es ist schon richtig: Der Fakt, dass schon der Überfall – und nicht wie oft transportiert, die Schlacht um Stalingrad – der Wendepunkt der Weltkriegsgeschichte war, ist vielfach nicht bekannt. Man muss andererseits aufpassen, den geschichtspolitischen Bemühungen aus Moskau nicht zu sehr nachzugeben. Bei uns ist der 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen sehr präsent; dieses Datum markiert den Beginn des Zweiten Weltkrieges. Für die Russen beginnt er eigentlich erst mit dem Großen Vaterländischen Krieg am 21. Juni 1941. 1939 war noch zu sehr vom Hitler-Stalin-Pakt geprägt – das geschichtspolitische Interesse Moskaus gewichtet da anders.
Aber ich denke schon, dass wir Deutschen sehr fest in unserem Gedächtnis verankert haben, dass es nicht nur ein militärischer Krieg, sondern vor allem ein grausamer ideologischer Vernichtungskrieg war, der in der Sowjetunion für Millionen zivile Opfer sorgte.

Welche neuen Aspekte lassen sich 80 Jahre nach dem Beginn der Operation Barbarossa erforschen?
Eine Mikrostudie darüber, wer auf deutscher und sowjetischer Seite zu welchem Zeitpunkt was wusste, wäre interessant. Ein anderes hochspannendes Thema ist, wer da eigentlich genau an der Seite der Deutschen mit einmarschierte. Das sind Freiwilligenverbände aus halb Europa. Die Zustimmung zum Nationalsozialismus war zu dieser Zeit enorm groß; die Kampagne gegen den Bolschewismus stieß in Europa auf viel Zustimmung – da gibt es noch einiges zu diskutieren.
(FA)

Am 21. Mai 2021 sprach Prof. Dr. Claudia Weber auf Einladung des Center of Geopolitics der University of Cambridge über die Bedeutung der Operation Barbarossa. Zum Mitschnitt des Gesprächs

 

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