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Europa-Universität trauert um Prof. Dr. Włodzimierz Borodziej – Ein Nachruf von Viadrina-Präsidentin a. D., Prof. Dr. Gesine Schwan

Am 12. Juli 2021 ist der polnische Historiker Prof. Dr. Włodzimierz Borodziej verstorben. In einem persönlichen Nachruf erinnert die ehemalige Präsidentin der Europa-Universität, Prof. Dr. Gesine Schwan an den Historiker. 2004 hatte er den Viadrina-Preis erhalten für seine Verdienste um die deutsch-polnische Verständigung.

„Seitdem ich Włodzimierz Borodziej kannte, habe ich seine ungewöhnliche Verbindung von praktischem Engagement, betont nüchternem und sehr differenziertem Urteil und persönlicher Zurückhaltung, ja Bescheidenheit bewundert. Er war ein Vorbild als Wissenschaftler und als Mensch.

Grundlegend für sein Selbstverständnis als Historiker war die Quellenarbeit; er wollte herausfinden, was war. Nicht von ungefähr war seine Editionstätigkeit immens. Vorurteile waren ihm ein Horror. Aber zugleich kannte er sich wissenschaftstheoretisch viel zu gut aus, als dass er hätte annehmen können, sogenannte empirische Tatsachen ließen sich ohne theoretisches Vorverständnis verstehen oder deuten. Der hermeneutische Zirkel zwischen Vor-Annahmen und empirischen Überprüfungen war ihm wohl vertraut. Auch, dass es keine „wertfreie“ Wissenschaft gibt, wie immer wieder in Bezug auf einen nicht begriffenen Max Weber behauptet wird.

Włodzimierz Borodziej ist nach dem Krieg in Polen und später auch in Wien in einer entschieden kommunistischen Familie aufgewachsen. Mit offenen Augen hat er die gerade erlebten historischen Abgründe im deutsch-polnischen Verhältnis und die weltanschaulichen und politischen Gegensätze im Ost-West-Konflikt beobachtet. Sein Vater war Offizier bei der Auslandsspionage. Sich ein eigenes Urteil zu bilden, war für Borodziej unausweichlich. Dabei hat er immer die Schwierigkeit gespürt, die unterschiedlichen und konträren Loyalitäten, die bei ihm auch eine existenzielle Dimension hatten, miteinander ehrlich zu konfrontieren.

Das Ergebnis in seiner wissenschaftlichen Arbeit war eine unaufhörliche Bemühung, verschiedene, auch konträre Perspektiven in den Blick zu nehmen und zu würdigen, ohne im Unentschiedenen zu verleiben. Dazu gab es in dem, was er historisch betrachtete, zu viel Grausamkeit, Leid, Schuld und Verantwortung.

Wenn er für seine deutsch-polnische Verständigungsarbeit, paradigmatisch etwa in der deutsch-polnischen Schulbuchkommission, deren polnische Seite er geleitet hat, gelobt wird, so war dies ein Paradebeispiel für seine Fähigkeit, sehr unterschiedliche Perspektiven zusammenzusehen. Solche Verständigung stand bei ihm zugleich im Dienst von Demokratie und Frieden. Denn die grausame Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges ist nur ein höllisches Beispiel für Gegensätze und Konflikte, die in abgeschwächter und hoffentlich zivilisierter Form auch im gewaltfreien Zusammenleben in und zwischen pluralistischen Demokratien täglich Brot sind.

In seinem umfangreichen Werk hat Włodzimierz Borodziej auch publizistisch in verschiedenen ausführlichen Artikeln in der Neuen „Zürcher Zeitung“ oder in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ segensreich aufklärerisch gewirkt. Vor dem Hintergrund seiner tiefen und reflektierten, auch faktengesättigten Einsicht in komplexe historische Zusammenhänge etwa zum Thema des Ersten Weltkrieges, nicht nur in West- sondern auch in Mittelosteuropa, legte er offen, wie die verbreitete deutsche und westeuropäische Sicht über diese Katastrophe, die sich auf den Stellungskrieg zwischen Deutschland und den westeuropäischen Nachbarn konzentrierte, die unsäglichen Menschenopfer, die Wahrnehmung der Sinnlosigkeit in Mittelosteuropa gar nicht zur Kenntnis nimmt. Darin kommt eine Geringschätzung der konfliktbeladenen Entstehungsgeschichte der mittelosteuropäischen Staaten zwischen den Weltkriegen, aber auch danach zum Ausdruck.

Ohne seine Nüchternheit und sein skrupulöses Historiker-Urteil zu verraten, erfüllte Borodziej auch in diesem Kontext vorbildlich die Aufgabe des Intellektuellen, der sich in die öffentliche Arena begibt, um dem häufigen westlichen Unverständnis durch Aufklärung zu begegnen. Damit hatte er eine erhebliche persönlich-wissenschaftliche Autorität gewonnen.

Mit seinen Forschungen zur Folge des Ersten Weltkriegs hat Borodziej zu verstehen gegeben, dass dieser Krieg mit den neuen Chancen für die nationale Selbstbestimmung in diesem Teil unseres Kontinents nicht einfach als Katastrophe wahrgenommen wird.

Dass Włodzimierz Borodziej in Brüssel den Wissenschaftlichen Beirat des entstehenden Hauses der Europäischen Geschichte geleitet hat, war ein Glücksfall, weil er so aufgrund seiner profunden Kenntnis auch der westeuropäischen historischen Forschung nicht in den Verdacht geraten ist, als osteuropäischer Geschichts-Lobbyist zu handeln und zu wirken.

Borodziejs Fähigkeit, allen menschlichen Ungerechtigkeiten, die sich in der Geschichte abspielen, tapfer und unbeirrt ins Auge zu sehen und dabei nicht in standpunktlose Indifferenz oder in Zynismus zu verfallen, war eine große Lebensleistung. Sie prägte seinen immer leicht ironischen Stil, mit dem er die Distanz zum Gegenstand mit Selbstdistanz verbunden hat, ohne zu schillern. Er war ein Segen für sein Land, für seine Zunft, für Europa und für den Frieden wie die demokratische Verständigung. Im Juli 2021 ist er viel zu früh von uns gegangen.“

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