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„Unser Forschungsfeld ist bei Euch in besten Händen!“ – Weltweit führende Südosteuropa-Forscherin Prof. Dr. Maria Todorova zu Gast an der Viadrina

Ende 1990er Jahre versetzte „Imagining the Balkans“ von Prof. Dr. Maria Todorova die Osteuropaforschung in Aufregung: Die Südosteuropaforscherin argumentierte, wie „der Balkan“ seit dem 19. Jahrhundert aus Zuschreibungen des Westens entstand und das nicht als neutraler geografischer Begriff, sondern als Komplex negativer Klischeevorstellungen. Am 14. Oktober 2021 hielt Maria Todorova im Rahmen des Fritz Exner Kolloquiums einen Vortrag an der Viadrina.

Es war eine rasante intellektuelle Reise durch die zentralen Debatten, Kontroversen und aktuellen Trends der Südosteuropaforschung, auf die Prof. Dr. Maria Todorova die rund 20 Teilnehmenden des diesjährigen Fritz Exner Kolloquiums im Logensaal und über 50 Interessierte per online-Übertragung mitnahm. Zahlreiche Debatten hatte die führende Südosteuropaforscherin, die, wie sie zu Beginn ausführte, den Begriff des Balkans der Bezeichnung Südosteuropa vorzieht, initiiert. „Der Begriff Südosteuropa impliziert die Vorstellung eines Europa mit einem Zentrum; Regionen, wie Nord-, Süd-, Ost-, West- oder eben auch Südosteuropa werden in Ableitung dieses Zentrums definiert und erscheinen damit als eine dem Zentrum untergeordnete Kategorie.“ Das Konzept des Balkans hingegen erlaube eine diskursive Perspektive: „Balkan, das ist nicht nur ein Name, sondern eine – zumeist negativ verstandene – Metapher, die aus diskursiven Zuschreibungen des Westens, aber auch aus der Auseinandersetzung ,from within‘ des Balkans entstanden ist.“

Damit war Todorova schon mittendrin in einer der wichtigsten Debatten des Forschungsfeldes, die sie mit dem 2015 verstorbenen Historiker Prof. Dr. Holm Sundhaussen geführt hatte und von dessen Auffassung des Balkans als historische Region sie sich mit „Imagining the Balkans“ abgesetzt hatte. Kein Wunder, dass sie, die das Diskursive betont, das Konzept der Pfadabhängigkeit ablehnt: „Geschichte ist keine kausale, deterministische Angelegenheit, sondern ein komplexer, kontingenter Prozess.“

Prof. Dr. Maria Todorova beim diesjährigen Fritz Exner Kolloquium im Logensaal der Europa-Universität Viadrina mit rund 20 Teilnehmenden und über 50 Interessierten per online-Übertragung. Fotos: Heide Fest


Diesen gelte es zu erforschen; und das im Hinblick auf aktuelle Fragen, wie Gedächtnis- und Erinnerungsforschung, Gender und Umweltschutz, und im Vergleich mit anderen Ländern auch außerhalb des Balkans. „Wir müssen den Balkan de-exotisieren.“, so Todorova, die an allen drei Tagen am Kolloquium teilnahm. Zahlreiche spannende Forschungsprojekte habe sie bereits kennenlernen dürfen und freue sich auf das, was noch komme. Schon jetzt aber sei sie sicher: „Unser Forschungsfeld ist bei Euch in besten Händen!“

Das Fritz Exner Kolloquium wird von der Südosteuropagesellschaft alle ein bis zwei Jahre ausgerichtet und gilt als das renommierteste Nachwuchskolloquium für die europäische Südosteuropaforschung. Unter den Teilnehmenden in diesem Jahr waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Schweiz, Österreich, aus den Niederlanden und aus der Region Südosteuropa. 2018 holte Viadrina-Historikerin Prof. Dr. Claudia Weber, die auch Präsidiumsmitglied der Südosteuropagesellschaft ist und deren Zweigstelle an der Viadrina leitet, das Kolloquium erstmals an die Europa-Universität. Zuvor hatte ihr Doktorvater Prof. Dr. Wolfgang Höpken das Treffen ausgerichtet. 

Dass Maria Todorova am gesamten Kolloquium teilgenommen hat, freut auch Organisatorin Claudia Weber insbesondere für die Teilnehmenden: „Maria hat sich viel Zeit genommen, die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu beraten, ihnen zuzuhören, sie zu ermutigen. Immer wieder beeindruckt mich, wie es ihr gelingt, einen hoch akademischen, intellektuell inspirierenden Vortrag sehr nahbar, lebenszugewandt und unterhaltsam zu gestalten. Sie ist eine scharfe Denkerin, nie langweilig, nie Mainstream und dankenswerterweise provokant.“

Und was bedeutet Maria Todorova für Claudia Weber? „Sie war ein ,role model‘ für mich. Es gehörte damals schon viel Mut dazu, sich mit ,Imagining the Balkans‘ der gesamten etablierten westeuropazentrierten und sehr männlichen Forschung in den Weg zu stellen.“ (MG)